Ich kann nicht riechen.
Ja, das gibt es.
Nein, gar nichts.
Nein, nicht erst seit Corona. Vermutlich fehlt mir dieser Sinn seit meiner Geburt.
Ja, ich kann trotzdem schmecken. Allerdings nicht so intensiv.
Ja, es gibt Behandlungsmöglichkeiten. Allerdings laufe ich seit fast 31 Jahren mit diesem gestörten Sinn rum, die Erfolgschance ist also nicht hoch.
Nein, ich finde nicht, dass es gar nicht sooo schlimm ist nicht riechen zu können. Ich find es sogar richtig scheiße. In diesem Text möchte ich euch erzählen wieso.
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Ein geruchsloser, persönlicher Essay von Franziska Sophie Bothe
1. Fakten, Fakten, Fakten
- komplette Geruchslosigkeit = Anosmie
- statistisch gesehen haben ungefähr 5% der Deutschen einen gestörten Geruchssinn[1]
- Gründe können sein: Unfälle (Schädel-Hirn-Trauma), chronische Nasennebenhöhlenentzündungen, geschwollene Nasenpolypen, neurologische Erkrankungen (Multiple Sklerose, Parkinson, Alzheimer), psychische Erkrankungen wie Depressionen
- 27% bis 30% der Menschen mit Anosmie geben an, stark in ihrer Lebensrealität beeinträchtigt zu sein[2]
- laut GdB-Tabelle (gibt die Stärke einer Behinderung eines Menschen in Prozent an) liegt Anosmie und damit verbundene Geschmacksbeeinträchtigung bei 15%[3]
2. Erinnerungen
„Ich wäre so froh, wenn ich im Sommer nicht riechen könnte!“
Wenn es in Gesprächen um meine Anosmie geht, denken Menschen meistens zuerst an Gestank: Die volle Bahn mit den betrunkenen Fußball-Fans, der flauschige Bio-Müll in der WG-Küche, Dixiklos auf Festivals, der Feuerwerksmuff auf der Uni Mittsommernacht oder Sportumkleiden aus der Schulzeit…
Das sind Gerüche, auf die ich bestimmt gerne verzichte.
Aber was ist mit dem Kindheitslieblingsessen aus Omas Küche? Und dem Platzregen an einem heißen Sommertag? Menschen sagen doch immer, dass Sommerregen so gut rieche. Die Freibadpommes? Wie roch überhaupt die Person, neben der ich zuletzt geschlafen habe? Und wie roch es im Zimmer, nachdem wir miteinander geschlafen haben? Kann man eigentlich wirklich anhand des Geruchs merken, ob jemand Sex hatte?
Tja, da bin ich leider raus.
Im Gegensatz zum Sehen, Hören oder Tasten wird der Duftreiz direkt im limbischen System des Gehirns aufgenommen, wo Emotionen und Erinnerungen verarbeitet werden. Dadurch ist der Geruchssinn unmittelbar. Ein Geruch kann sofort reinknallen und uns in eine andere Zeit versetzen. Im positiven sowie im negativen Sinne. Man spricht auch vom „Proust-Effekt“, benannt nach dem französischen Autor Marcel Proust. In seinem Werk Auf der Suche nach der verlorenen Zeit beschreibt er einen Mann, der ein Stück Gebäck in seinen Tee tunkt, worauf Erinnerungen an seine Kindheit präsent werden, die er dachte, schon längst vergessen oder gar verdrängt zu haben.
Halten wir kurz fest: Riechen ist mit diesem Emotions- und Erinnerungsfeature wirklich krass. Behaupte ich jetzt einfach mal als Ahnungslose. Zumindest finde ich es in der Theorie sehr interessant.
3: Scham & Körpergeruch
Riechen beeinflusst unsere Stimmung und Sympathie für unsere Mitmenschen.[4] Ich möchte so gerne wissen, wie Menschen riechen, die ich mag. Würde ich sie auch noch mögen, wenn ich ihren Körpergeruch kennen würde? Schließlich gibt es das Sprichwort „jemanden riechen können“, das nicht von ungefähr kommt. Tatsächlich beichtete mir letztens eine Freundin, dass ein Ex-Freund von mir immer üblen Mundgeruch hatte. Mich hat’s nicht gestört, klar, aber ist es mir Nachhinein unangenehm den Anderen gegenüber – was dachten sie über mich, wenn ich mit jemanden zusammen sein konnte, der gestunken hat? Haben sie mich dadurch anders wahrgenommen?
Vor kurzem entdeckte ich ein lang vergessenes Brot, das beinah zu Staub zerfiel. Kurz die Sorge: Wenn heute Freund*innen rumgekommen wären, hätten sie es gerochen? Und riecht es auch noch danach, nachdem ich den Bio-Müll rausbringe? Wie riecht es generell in meiner Wohnung? Fühlen sich Menschen hier geruchstechnisch wohl? Wenn nicht, dann würden sie es sagen. Bestimmt. Oder?
Generell mache ich mir auch Gedanken darüber, wie ich selbst rieche. Besonders im Sommer habe ich Angst nach Schweiß zu stinken. Bei manchen geruchlosen Menschen kann das zu Isolation oder Waschzwängen kommen, so geht es mir zum Glück nicht. Aber meine Geruchslosigkeit ist dennoch ein Fakt, der mich verunsichert. Ich merke, dass ich anderen nicht zu sehr „auf die Pelle“ rücken möchte, was prinzipiell eine gute Sache ist, nur wird’s nervig, wenn ich in dem Moment zu viel darüber nachdenke. Kann ich den Arm heben oder müffle ich? Hoch gelobt sei an dieser Stelle mein ADHS, was mich auch gerne mal vergessen lässt, dass ich stinken könnte, ohne es zu merken. Mein ADHS führt aber auch dazu, dass ich manchmal aus dem Haus gehe und mich frage, ob ich überhaupt geduscht und/oder Deo benutzt habe. Meistens ja…
Deo und duftendes Duschgel sind auch so eine Sache. Da muss ich Freund:innen oder meinem Bauchgefühl vertrauen. Als letztens eine Bekannte sagte, dass meine Haare echt gut duften, wurde ich daran erinnert, dass Shampoo, Haaröl und all der Bums ja auch riechen! Dabei dachte ich, dass ich nicht viele Produkte mit Duft benutze. Denn es stellt sich natürlich die Frage, wie ich meinen Körpergeruch gestalten möchte, wenn ich doch null Vorstellung davon habe? Tief in mir sitzt die Angst: Wer stinkt, wird ausgeschlossen. Und wenn ich etwas möchte, dann ja wohl dazuzugehören und ein Teil einer Gruppe zu sein.
Ganz unabhängig davon erfüllt Riechen eine Schutzfunktion, die uns im schlimmsten Fall vor dem Tod oder auch nur vor schlechter Hafermilch bewahren kann. So würde ich zum Beispiel nicht riechen, wenn aus meiner Therme im Badezimmer Gas austritt. Oder wenn es brennt. Natürlich kann ich die Qualmbildung bei einem Feuer sehen. Doch kann es dann schon zu spät sein.
4: Fehlende Erinnerungen
„Ach, du kannst ja nichts vermissen, was du nicht kennst.“
Besonders seit dem Tod meines Vaters denke ich vermehrt über meine Geruchslosigkeit nach. Denn es macht mich fertig nicht zu wissen, wie er gerochen hat. Und wie hat er in Kombination mit seinem Parfüm (Joop, rote Verpackung) gerochen? Vielleicht ist mein Unwissen auch besser so… Sonst könnte es dazu kommen, dass es mich innerlich zerreißen würde, wenn ich das Parfüm unangekündigt aus dem Nichts wahrnehmen würde. (Stichwort: Limbisches System, Erinnerungen & Emotionen)
Außerdem macht’s mich traurig, nicht abgespeichert haben zu können, wie meine Schwester als Baby gerochen hat. Babys sollen doch so gut riechen. Also unabhängig vom Windelinhalt. Ich weiß auch nicht, wie sie jetzt mit ihrem Billie Eilish-Parfüm riecht. Zwar habe ich diesen Sommer einen Termin beim HNO-Arzt, aber die Gerüche von damals… Die kommen nicht zurück.
Der Text als Audiodatei:
Quellen:
[1] Hüttemann, Daniela: Wenn Geruchs- und Geschmackssinn versagen, Pharmazeutische Zeitung online, 17.09.2019. Aufgerufen am 18.06.2023, von: https://www.pharmazeutische-zeitung.de/wenn-geruchs-und-geschmackssinn-versagen/
[2] Pekala, Kelly: Efficacy of olfactory training in patients with olfactory loss: a systematic review and meta-analysis, Int Forum Allergy Rhinol, 2016 March, S. 299–307. Aufgerufen am 18.06.2023, von: https://www.amboss.com/de/wissen/Olfaktorisches_und_gustatorisches_System
[3] O.A.: Versorgungsmedizin-Verordnung, Verordnung zur Durchführung des § 1 Abs. 1 und 3, des § 30 Abs. 1 und des § 35 Abs. 1 des Bundesversorgungsgesetzes, 12.12.2019. Aufgerufen am 18.06.23, von: https://www.gesetze-im-internet.de/versmedv/BJNR241200008.html
[4] Vgl. Amboss.com
Frasnelli, Johannes: Wir riechen besser als wir denken – Wie der Geruchssinn Erinnerungen prägt, Krankheiten voraussagt und unser Liebesleben steuert, Molden Verlag, 2022, 2. erweiterte Auflage.
Marnys.com. Anosmie, warum kommt es zum Verlust des Geruchsinns und wie kann er wiederhergestellt werden?, 28.12.2022. Aufgerufen am 18.06.2023, von: https://www.marnys.com/de/magazine/anosmie-warum-kommt-es-zum-verlust-des-geruchsinns-und-wie-kann-er-wiederhergestellt-werden/